Der kurze Brief zum langen Abschied by Handke Peter

Der kurze Brief zum langen Abschied by Handke Peter

Autor:Handke, Peter [Handke, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-06-07T16:00:00+00:00


»Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?«

Karl Philipp Moritz, »Anton Reiser«

2.

Der lange Abschied

Am Mittag dieses Tages kamen wir in St. Louis an. In den folgenden Tagen war ich immer mit Claire und dem Kind zusammen. Wir wohnten bei den Freunden, die Claire »Ein Liebespaar« genannt hatte, und blieben fast immer in dem Haus, das in ROCK HILL lag, einem Vorort westlich von St. Louis, schon weiter im Innern des Staates Missouri. Es war ein Holzhaus, das gerade gestrichen wurde, und wir halfen dem Paar bei der Arbeit. Ich erfuhr nie, wie die beiden wirklich hießen, sie nannten sich nie anders als mit immer neuen Kosenamen. Zuerst dachte ich bei ihrem Anblick an die Schrumpfsehnsucht, von der Claire mir erzählt hatte, dann, mit dem zweiten Blick, vergaß ich wieder, was man allgemein über sie sagen konnte, und betrachtete sie nur, neugierig, was ihre Art zu leben mir sagen würde. Die Frau gab sich immer geheimnisvoll, der Mann enttäuscht und beleidigt, aber wenn man länger bei ihnen gewesen war, merkte man, daß die Frau gar kein Geheimnis hatte und daß der Mann recht vergnügt und zufrieden war. Trotzdem mußte man sich jeden Morgen wieder daran gewöhnen, daß ihre geheimniskrämerischen und enttäuschten Gesichter nichts zu bedeuten hatten. Der Mann malte Ankündigungsplakate für die neuen Filme in St. Louis, die Frau half ihm dabei, indem sie den Hintergrund malte. Er verfertigte auch Gemälde mit Darstellungen aus der Kolonisation des Westens, Landschaften mit Planwagen und Dampfbooten, und verkaufte sie an die Warenhäuser. Ihre Zuneigung zueinander war so heftig, daß sie sich immer wieder in eine kurze Gereiztheit verwandelte. Sie spürten diese Gereiztheit schon vorher und beschwichtigten einander, aber die Beschwichtigung führte erst recht die Gereiztheit herbei. Um wieder ruhig zu werden, lösten sie sich nun nicht voneinander und hörten zu reden auf, sondern blieben, sich streichelnd und umarmend, auf engem Raum zusammen, immer gereizter und überdrüssiger, und fuhren fort, einander mit ihren Kosenamen zu beschwichtigen – auch für ihre Streitgegenstände gebrauchten sie nur Kosewörter –, bis sie sich auch wirklich allmählich entspannten und auseinander konnten. Das waren dann die einzigen Momente, in denen es für sie eine Art Freizeit voneinander gab. Ohne sich auch nur einen Tag aus den Augen zu sein, lebten sie so schon seit zehn Jahren.

Dabei wußten sie noch immer nicht, wie sie es einander recht machen sollten. Wenn einer der beiden eine Arbeit verrichtet hatte, war damit nicht gesagt, daß er beim nächsten Mal wieder dran war; aber auch nicht, daß der andre dran war. Jede Tätigkeit mußte von neuem ausgehandelt werden, und weil jedesmal beide sie verrichten wollten, brauchten sie vorher lange, bis sie sich auf einen geeinigt hatten. Sie hatten immer noch keine Rollen angenommen: wenn einem etwas gefiel, was der andere tat, ob er nun malte, kochte, etwas sagte oder sich einfach nur bewegte, so hieß das nicht, daß der andre beim nächsten Mal



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